Freunde der Deutsch-Französischen Brigade
Amis de la Brigade Franco-Allemande e.V.

Flüge der Hoffnung

Die Hilfsorganisationen Ukraine Air Rescue und Safer Ukraine lassen krebskranke Kinder aus dem kriegsgebeutelten Land zur Weiterbehandlung nach Westeuropa ausfliegen. Mit privaten Maschinen – auch von Freiburg aus. 

In Freiburg war es noch sonnig. Ein wolkenloser Himmel ließ den Blick in die Ferne schweifen, auf die Hügel des Schwarzwalds und der Schwäbischen Alb. Doch über Polen ändert sich das Wetter. Kurz vor dem Flugplatz von Mielec, einem kleine Ort unweit der Grenze zur Ukraine, wird es grau und neblig. Regentropfen und etwas Graupel prasseln auf die Scheibe des Cockpits und Michael Wagner muss das Heizsystem der kleinen, einmotorigen Maschine einschalten, das den Propeller und die Tragflächen eisfrei hält. Es ruckelt und schüttelt, als Wagner vorsichtig zum Landeanflug ansetzt, doch der erfahrene Hobbypilot bleibt ruhig. Vor einem Jahr erst habe er die Piper Meridian aus den USA abgeholt und über das eisige Kanada und Grönland nach Freiburg überführt. „Das waren ganz andere Bedingungen“, sagt Wagner und lacht. Sanft setzt er trotz des böigen Winds auf, fährt das Flugzeug in Richtung des Towers, wo es schon erwartet wird. Ein Mann mit gelber Warnweste steht dort, begrüßt die drei Mitglieder an Bord. „Der Patient ist schon da“, sagt der Angestellte des Flugplatzes auf Englisch und weist in Richtung des Hauptgebäudes. 

Stefan Vogelbacher, der zweite Mann an Bord, greift nach den Paketen, die die Maschine geladen hat, und trägt sie in Richtung des bereitgestellten Pickups. Medikamente, Verbandsmaterial, Brennpaste. Alles Dinge, die die Freiburger Stadtmission bereitgestellt hat, um den Menschen in der Ukraine zu helfen, insbesondere den dortigen Krankenhäusern. 

Vogelbacher ist ein Tausendsassa, einer der sich neben seinem Beruf als Taxifahrer seit einem Jahr ganz der Ukraine-Hilfe verschrieben hat. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn saß er am Steuer eines Lieferwagens, der Hilfsgüter in die Ukraine und Flüchtlinge von dort nach Südbaden gebracht hat. Wie oft er mittlerweile im Grenzgebiet war, weiß er selber nicht. Und ist er nicht selber vor Ort, organisiert und koordiniert er im Hintergrund, von Freiburg aus. 

Ein Wendepunkt war für Vogelbacher das Massaker in Butscha, bei dem ein aus der Ukraine stammender Pastor der Stadtmission Freiburg vor Ort war und die Gräuel miterlebt hat. Der Pastor bat die Stadtmission um dringende Hilfe. Medikamente wurden für das zerstörte Krankenhaus der Kleinstadt benötigt, ebenso wie sogenannte Rape-Kits, mit deren Hilfe man Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen gerichtsfest nachweisen kann – aber nur innerhalb eines kurzen Zeitkorridors. „Mein erster Gedanke war, am schnellsten geht das mit dem Flieger“, sagt Vogelbacher heute. „Ein verrückter Gedanke war das damals“, gibt er zu – aber einer mit weitreichenden Folgen. 
Über einen Kontakt am Freiburger Flugplatz lernte Vogelbacher Michael Wagner kennen. Der Freiburger IT-Unternehmer war sofort bereit, die Pakete an die polnisch-ukrainische Grenze zu fliegen. Doch so einfach geht das nicht, die Gegend, insbesondere der größte Flughafen dort in Rzeszow, ist mittlerweile militärisches Sperrgebiet und untersteht dem Oberkommando der Nato. 

Nach kurzer Recherche im Internet stieß Vogelbacher auf Ukraine Air Rescue, eine Hilfsorganisation, in der sich sozial engagierte Hobbypiloten mit eigener Maschine zusammengefunden haben, um Hilfsgüter an die Grenze zu fliegen und Flüchtlinge, denen ein Transport auf dem Landweg nicht zumutbar ist, außer Landes zu bringen. 
Und plötzlich ging alles ganz fix. Über die Hilfsorganisation konnten nicht nur die Hilfsgüter schnell an die ukrainische Grenze gebracht werden, es wurden auch zwei Flüchtlinge mitgenommen, darunter ein 92-jähriger Mann.

Kaum in Freiburg zurück, las Vogelbacher einen Bericht der Badischen Zeitung über die Freiburger Kinderärztin Alexandra Müller, die in der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie der Uniklinik arbeitet und zusätzlich noch als medizinische Direktorin für Safer Ukraine tätig ist, eine internationale Initiative unter der Leitung des St. Jude Hospital im US-Bundesstaat Tennessee, das weltweit als eines der Zentren für die Behandlung krebskranker Kinder gilt. Über 1350 Patienten im Kinder- und Jugendalter konnte Safer Ukraine mittlerweile zur Weiterbehandlung nach Westeuropa oder in die USA und nach Kanada bringen. 


Es entwickelte sich eine weitreichende Kooperation. Drei weitere Male ist Michael Wagner seither mit seiner Piper an die Grenze geflogen, um krebskranke Kinder auszufliegen. Unentgeltlich. Auch an diesem Samstag ist die Mannschaft um Wagner und Vogelbacher im Einsatz. Kaum in Mielec angekommen, denkt Wagner bereits an den Rückflug. Die Maschine muss betankt und der Flugplan erstellt werden. 

Die Kinderärztin wartet jetzt vor dem Gebäude und führt die Helfer in den ersten Stock. In einem Nebenraum sitzt der achtjährige Sascha mit seiner Mutter, abgeschirmt vom Rest der Helfer. Sascha leidet an einer seltenen Knochenmarkserkrankung, einer Variante von Blutkrebs, auf deren Behandlung die Freiburger Uniklinik spezialisiert ist. Sein Immunsystem ist durch die Erkrankung stark geschwächt, jeder Infekt könnte tödlich für ihn sein. Ein Transport auf der Straße wäre ihm auch deshalb nicht zuzumuten. 

Wagner gibt das Zeichen, die Vorbereitungen für den Rückflug sind abgeschlossen. Sascha und seine Mutter sowie Alexandra Müller machen sich auf den Weg zum Rollfeld. Der Regen hat nachgelassen, aber ein kalter Wind pfeift durch die wintergraue Landschaft. Angespannt stehen Sascha und seine Mutter vor der Treppe in das Flugzeug. Sie sprechen kein Englisch, die Kommunikation mit Ärztin Müller läuft über das Übersetzungsprogramm des Smartphones. Die beiden wissen nicht, was sie erwartet, kennen Freiburg nur von den Erzählungen der Ärztin. Ihr Gepäck müssen sie zurücklassen, es wird am folgenden Tag mit einem Lieferwagen nach Freiburg gebracht, Stefan Vogelbacher kümmert sich persönlich darum. Mit Gepäck wäre die Maschine zu schwer gewesen. 

Die Tür schließt sich und das Flugzeug setzt sich in Bewegung, fährt zur Startbahn und hebt vorsichtig ab. Stille an Bord. Sascha und seine Mutter sitzen im hinteren Teil des Fliegers, Müller lächelt dem Achtjährigen zu, versucht ihm, die Anspannung zu nehmen. 

Der Junge ist die 100. Person, die Ukraine Air Rescue evakuiert und zur Weiterbehandlung in eine Klinik in Westeuropa gebracht hat. Längst ist aus dem losen Netzwerk von Hobbypiloten ein wichtiger Akteur der Ukraine-Hilfe geworden. 72 Piloten und 307 Flugzeuge sind derzeit dort gelistet, von der kleinen Propellermaschine bis zum Firmenjet. 

Die Behörden kommen den Piloten entgegen, erlassen Start- und Landegebühren und sorgen für unbürokratische Aus- und Einreisen. 
Nach zweieinhalb Stunden erreicht die Maschine Freiburg. Es ist dunkel geworden, Sascha schaut durch das Fenster, sieht die Flutlichter des SC-Stadions und die Landebahn. Seine neue Heimat liegt unter ihm. Die Piper setzt auf, ein Krankenwagen wartet auf den Jungen, um ihn 
in die Klinik zu bringen. Die Mutter darf zunächst bei ihm bleiben, danach geht sie in das Elternhaus des Fördervereins für krebskranke Kinder direkt nebenan. 
Die Mutter wirkt erleichtert. „Jetzt ist alles in Ordnung, endlich ist alles in Ordnung“, sagt sie mit erschöpfter, aber hoffnungsfroher Stimme. Sie und Sascha hätten Hunger und würden sich über ein Abendessen freuen, sie hoffen, dass keine langen Untersuchungen an diesem Abend mehr anstehen, sprechen sie in das Übersetzungsprogramm des Smartphones. Alexandra Müller lächelt. „Sie kriegen gleich etwas zu essen. Heute Abend heißt es ausruhen und Kräfte tanken“, antwortet sie über das Handy. 


Müller weiß, dass der Junge zwar in Sicherheit vor dem Krieg ist, seine Krankheit ihm aber weiter zusetzen wird. So wie vielen anderen Kindern in der Ukraine, deren Behandlung durch die Kriegswirren nicht mehr gesichert ist. Noch werden 400 krebskranke Kinder im Land behandelt, sagt Müller. Das Problem aber sei, dass jeden Monat 50 bis 60 hinzukämen. Aufgeben wolle sie dennoch nicht. „Wir wollen Krieg und Verzweiflung ein Stück Hoffnung und Menschlichkeit entgegensetzen“, sagt die Ärztin. 


Autor/Auteur: Michael Saurer, BZ
Fotos/Photos: Michael Saurer, BZ