Freunde der Deutsch-Französischen Brigade
Amis de la Brigade Franco-Allemande e.V.

MdB Kiesewetter hält Vortrag bei der Amicale

Was bleibt von Deutschlands Zeitenwende?
Namensartikel Roderich Kiesewetter MdB in ES&T 01/24                              Version en francais
Unser Land ist heute in einer Art und Weise durch geopolitische Bedrohungen und staatsterroristische Vorgehensweisen gefordert, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht kannten. Ein Umdenken ist erforderlich. Der Bundeskanzler hat das am 27. Februar 2022 mit seiner sog. Zeitenwende-Rede sehr treffend beschrieben. Aber hat die Zeitenwende wirklich im Februar 2022 stattgefunden? Für Estland beispielsweise fand die Zeitenwende im Jahr 2007 nach massiven Cyberangriffen durch Russland statt. Im Ergebnis sind die baltischen Staaten heute gut auf Cyberherausforderungen vorbereitet. Wir können viel von dort für unsere eigene Sicherheit lernen. Ebenfalls im Jahr 2007 haben wir eine Zeitenwende in München bei der Sicherheitskonferenz erlebt, wo Putin einen neuen Kalten Krieg heraufbeschwor. Im Jahr 2008 waren Frankreich und Deutschland, wohlwissend, was Putin ein Jahr zuvor in München gesagt hatte, allerdings darauf bedacht, den Mann im Kreml zu beschwichtigen und haben den NATO-Beitrittsabsichten von Georgien und der Ukraine, die einen Membership-Actionplan wollten, eine Absage erteilt. Im Jahr 2008 begann die Zeitenwende für Georgien. Am Eröffnungstag der Olympischen Spiele im Peking erfolgte der russische Einmarsch in Georgien, nachdem ein Angriff auf russische Streitkräfte in georgischen Uniformen von Russland fingiert wurde. Für die Ukraine hingegen, begann die Zeitenwende im Februar 2014 mit dem Einmarsch Russlands auf der Krim und der Besetzung der Donbas-Region. Putin schaffte Blaupausen in der Vorgehensweise in Grosny und Aleppo, die wir 2022 in Mariupol erneut beobachten konnten. Es sind deutliche Muster im Vorgehen Putins zu erkennen. Seit Jahren erleben wir immer wieder gezielte Tötungen von politischen Widersachern. Da fallen Menschen aus den Fenstern der russischen Botschaft oder werden gezielt getötet wie beim Tiergartenmord. Das System Putin ist nicht erst seit heute so. Es hat sich über Jahrzehnte entwickelt und wer auf russischer Seite die Anzeichen früh beobachtet und kritisiert hat, hat das mit seinem Leben
bezahlen müssen. Diese Entwicklung also hat deutlich früher eingesetzt. Wer es wahrhaben wollte, der konnte es durchaus sehen.
Verspätete Zeitenwende Deutschland erkannte diese Entwicklung scheinbar erst 2022, es folgte die Zeitenwende-
Rede. Doch warum? Weil viele in der Bundesregierung der Auffassung waren, dass die Ukraine innerhalb weniger Wochen überrannt sein und die russischen Truppen nach einem überrollten Moldau an der Grenze zu Rumänien, zum Baltikum und zu Polen stehen würden. Wurde das Sondervermögen der Bundeswehr deshalb so schnell ins Leben gerufen und beschlossen? Oder war der Grund vielleicht, dass wir begriffen haben, dass es in der Ukraine nicht nur um Land und Territorium geht. Sondern darum, ob sich künftig die Macht der Stärke über die Stärke des Rechts hinwegsetzt und wir ganz neue globale Disruptionen erleben? Für mich persönlich setzte die Zeitenwende im Jahr 2014/2015 ein, als der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf die Ukraine und die Besetzung der Krim begann. Insgesamt zwei Millionen Menschen wurden vertrieben, mindestens 14.000 starben. Die deutsche Antwort, vergleichbar wie 2008, war gemeinsam mit Frankreich, den Bruch des Budapester Memorandums hinzunehmen und ausschließlich auf Beschwichtigung, also Diplomatie zu setzen, Minsk 1 und 2. Versäumt wurde, die Ukraine aufzurüsten, auch das scheiterte an Deutschland und Frankreich. Die deutsche Antwort auf die Annexion der Krim und den Abschuss des Passagierfluges MH17 war Nord Stream 2. Für Russland war unser Verhalten ein Zeichen der Schwäche. Wir wollten damals keine Zeitenwende. Und das, obwohl bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin mit ihren Reden sehr klare Zeichen einer Initialzündung für eine Zeitenwende gesetzt hatten. Deutschland sollte künftig „früher, entschiedener und substanzieller“ handeln. Aus den Worten folgten allerdings keine Taten. Auch nach der Zeitenwende-Rede des Kanzlers Scholz, handelt Deutschland weiterhin
gerade nicht „früher, entschiedener und substanzieller“. Deutschland tut zu wenig und zu langsam. Die Zeitenwende bleibt eine Rede, sie kam nicht im Mindset an. Als drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt mit einem Bruttoinlandsprodukt von vier Billionen Euro und mit
einem Bundeshaushalt von 450 Milliarden Euro liefern wir vier Raketenwerfer Mars, 14 Panzerhaubitzen, 18 Kampfpanzer Leopard 2, und werden noch etwas über 100 Leopard 1 liefern - bei einer Frontlänge von Flensburg bis Mailand! Unsere europäischen Partner sind da nicht viel besser. Wir bilden ukrainische Soldaten aus, auch im „Gefecht der verbundenen Waffen“. Zum Gefecht der verbundenen Waffen gehört aber insbesondere Luftüberlegenheit. Doch das, was wir an Luftverteidigung liefern, geht ausnahmslos in den Schutz der Städte, der zivilen Infrastruktur. Es wird nicht zum Schutz der Kampftruppe an der Front eingesetzt. Es fährt kein Gepard mit den Gefechtsfahrzeugen mit. Die Krux der ukrainischen Armee ist, dass sie zwar ausgebildet ist im Gefecht der verbundenen Waffen, aber nicht das Material bekommt, das dafür nötig ist. Die Ukrainer sind in keinen großen Gefechtsverbände unterwegs, weil dies unter Dauerbeschuss durch Drohnen und riesigen Minenfeldern nicht machbar ist und es sowohl an Quantität wie an Qualität bei den Lieferungen fehlt. Versprechen zur Munition werden von den europäischen Partnern nicht gehalten. Hinzu kommt, dass die deutsche Rüstungsindustrie klare Angebote gemacht hat, aber Finanzierungszusagen fehlen. Eine große deutsche Rüstungsfirma hat fürs nächste Jahr die Möglichkeit angedeutet, 400.000 Artilleriegranaten zu produzieren. Doch Aufträge dazu wurden nicht erteilt. Bislang hat die deutsche Industrie jährlich etwa 11.000 bis 12.000 Schuss produziert, was ausreichend war, unseren Bedarf für Ausbildung und Übungen zu decken. Doch dieser Krieg zeigt uns, dass andere Realitäten vorherrschen. Unser Jahresbedarf (12.000 Schuss Artilleriegranaten) entspricht anderthalb Tagen des ukrainischen Einsatzes und ein Drittel des russischen Tageseinsatzes. Deshalb muss uns klar werden: wenn wir diesen Krieg aus der Westentasche begleiten, dann wird die Ukraine
scheitern. Wir müssen uns von drei Lebenslügen befreien Um die Zeitenwende im Mindset umzusetzen, muss sich Deutschland von drei Lebenslügen lösen. Die erste ist, dass wir von Freunden und Partnern umgeben sind, und wir uns um uns selbst und vorrangig um sozialen Zusammenhalt kümmern können. Das war in den 90er und frühen Nullerjahren wichtig, weil wir nach der Wiedervereinigung sehr viel in sozialen Zusammenhalt und vor allen Dingen auch Vertrauen in den Staat investieren mussten. Aber
um das zu finanzieren haben wir die Bundeswehr als finanziellen Steinbruch genutzt und damit begann leider die zweite Lebenslüge.
Wir haben auf billige Sicherheit aus den USA gesetzt. Das führte dazu, dass wir von ca. vier Prozent des BIP in Verteidigungsinvestitionen Ende der 80er Jahre zunächst auf 1,5 Prozent und dann auf ein Prozent abgerutscht sind. Wir sind bis heute große Fans billiger Wertschöpfungsketten aus China und billiger Energie aus Russland, wie die beiden Entscheidungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 zeigen. Und die dritte Lebenslüge ist unser Narrativ „Wandel durch Handel“. Die Hoffnung war, dass
China und Russland sich zu Transformationsdemokratien verwandeln und wir davon profitieren. Das ist aber leider nicht eingetreten, vielmehr haben wir uns gewandelt. Wir sind abhängig geworden. Diese drei Punkte müssen wir überwinden und den Menschen in unserem Land klar machen, dass unser Wohlstand nicht aufgezehrt werden darf wie die Friedensdividende, die etwa 400
Milliarden Euro umfasste. Uns allen muss auch klar sein, dass Wohlstand erst dann wieder wächst, wenn Investitionen in die Infrastruktur, in Innovationen, in die Zukunftsfähigkeit, Verteidigungsbereitschaft und Resilienz unseres Landes getätigt werden. Wenn wir die Realitäten nicht anerkennen, wenn wir zulassen, dass die Zeitenwende leere Worte bleibt, dann wird die Ukraine eine weitere Blaupause werden. Erste Anzeichen dazu sind bereits zu erkennen. In Serbien hat Präsident Vucic vor wenigen Wochen drei voll
aufgerüstete Brigaden im Norden, Osten und Südosten des Kosovo herum stationiert und damit den Druck erhöht. 30 NATO-Soldaten wurden bei Ausschreitungen zum Teil schwer verwundet und sind für ihr Leben gezeichnet. Ein weiterer Punkt, der unterzugehen scheint, ist, dass im Schatten des medialen Flutlichts auf den Hamas-Angriff gegen Israel, hunderttausend Menschen aus Bergkarabach nach Armenien vertrieben wurden. Die EU hat Aserbaidschan kaum kritisiert, weil wir – nach der Abhängigkeit von russischem Gas – nun abhängig vom Gas aus Aserbaidschan sind. Strategie gegen CRINK Der große schwarze Schwan im Raum – China – muss nichts tun, außer warten. Es wartet nur ab, wie sich der Westen in den Polykrisen abnutzt und passt sich an. Nicht umsonst hat die NATO in ihrem letzten strategischen Konzept deutlich gemacht, dass China für die NATO militärisch kein Partner und Wettbewerber ist, sondern ein Gegner. Wir sprechen derweil immer noch von Partner, Wettbewerber und kaum vom Gegner, obwohl die Bedrohungslage im Indo-Pazifik offensichtlich ist. Taiwan droht nicht zwingend eine militärische Intervention, eine einfache Energieblockade durch China würde ausreichen. Nach zwei Wochen hätte die Bevölkerung kein Benzin mehr, nach vier Monaten geht auch den Sicherheitskräften Öl, Gas
und Benzin aus. Und in dieser Skalierung spielt es eben eine Rolle, dass über 90% der Halbleiter Deutschlands, 85% der Halbleiter der Europäischen Union aus Taiwan kommen. Viele sagen, es sei nicht relevant. Wir könnten die Halbleiter auf dem freien Markt kaufen.
Das ist richtig. Die Frage ist allerdings, ob wir sie auf dem freien Markt kaufen oder ob China sie zuteilt oder die Zuteilung verweigert. Jeder dritte Euro geht durch den Indo-Pazifik. Nicht mehr, wenn China diesen blockiert. Unsere regelbasierte Ordnung wird herausgefordert. Von Kräften, die strategisch zusammenarbeiten, sich ergänzen und voneinander profitieren. CRINK: China, Russland, Iran und Nordkorea. Eine starke Allianz. Deshalb ist es für uns von besonderer Bedeutung, dass wir alles daransetzen, die Zeitenwende umzusetzen. Dazu sehe ich drei Schritte, die notwendig sind. Der erste Schritt ist, sich mit den europäischen Partnern zusammenzutun. Gerade nach der Wahl in Polen, haben sich die Vorzeichen wieder positiv verändert. Wir müssen gemeinsam mit anderen europäischen Nationen auf die USA zugehen und sie, was die Unterstützung der Ukraine angeht, entlasten und als Europa die militärische Unterstützung auf das gleiche Niveau bringen wie die USA. Das zweite, was zu tun ist, ist unbedingt der Rüstungsindustrie mehr Spielräume zu geben. Im Arbeitsrecht, in der Arbeitszeit, in der Rückversicherung der Produktion, auch durch Bürgschaften, Finanzierungszusagen und Bestellungen. Es muss möglich werden, dass unsere Rüstungsindustrie 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr arbeitet. Mein dritter Punkt ist eher symbolhaft. Ich nenne ihn Taurus. Wir diskutieren viel zu sehr über Waffensysteme. Die Waffensysteme sind nur ein Mittel zum Zweck. Mit dem Stichwort Taurus lässt sich aber das Kriegsziel verdeutlichen. Der Bundeskanzler sagt, wir unterstützen die Ukraine, „solange es nötig“ ist. Wir sollten stattdessen fordern, as soon as
possible, as much as possible, also „alles“ zu tun, damit die Ukraine ihre territoriale Integrität und Souveränität nicht nur verteidigen, sondern in den Grenzen von 1991 wiederherstellen kann. Damit sie gewinnt und nicht nur „nicht verliert“. Das wäre mit Taurus möglich.
Lessons Identified und Folgerungen
Was lernen wir aus alle dem? Zunächst einmal können wir feststellen, dass unser Verteidigungsbündnis, die NATO, alles andere als obsolet oder hirntod ist. Die NATO ist ausgesprochen effektiv und die Nukleare Abschreckung wirkt. Allerdings lernen wir auch,
dass Krieg nicht mehr linear geführt wird, sondern hybrid und als Informationskrieg. Neue Technologien spielen eine immer größere Rolle. Insbesondere der Einsatz verschiedenster Drohnentypen gewinnt an Bedeutung. Gleichzeitig müssen wir der EU als
Verteidigungsbündnis attestieren, dass sie viel zu langsam reagiert, zu ineffektiv und zu unglaubwürdig ist. Europa ist weiterhin von den USA als Sicherheitsprovider abhängig. Der europäische Pfeiler der NATO ohne die USA wäre derzeit nicht handlungs- oder gar
abschreckungsfähig. Die größte Stärke, die ich ausmachen kann, ist der Freiheitswille, das Level der Resilienz und des Mutes der Ukraine und ihrer Menschen, die – das kann man nicht oft genug betonen – für die EU, die NATO, für uns und den freien Westen kämpfen. Die größte Schwäche hingegen ist die Blockade Deutschlands bei Waffenlieferungen, die zu langsame, zu verzagte Unterstützung der Ukraine und die fehlende Bereitschaft, das „Mindset“ anzupassen sowie der Unwille in Europa auf eine Art von „Kriegswirtschaft“ umzustellen. Wie muss die neue europäische Sicherheitsarchitektur aussehen und wie sind die Erkenntnisse der Zeitenwende in konkretes politisches Handeln umzusetzen? Wir müssen uns zu einer massiven militärischen Aufrüstung der NATO und der EU bekennen. Deshalb müssen wir eher von drei statt zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben sprechen und überlegen, ob das Sondervermögen für die Bundeswehr nicht auf 300 Mrd. Euro bis zum Ende dieses Jahrzehnts wachsen sollte. Mit Interoperabilität und Standardisierung innerhalb der NATO lässt sich zudem Lastenteilung leichter auf viele Schultern verteilen. Dabei dürfen wir zu keiner Zeit den Schutz Kritischer Infrastruktur aus den Augen verlieren. Genauso wenig, wie die Desinformation und Propaganda unserer Gegner. Denn was wir sehen, ist insbesondere ein hybrider Krieg, den Russland führt. Nicht nur gegen die Ukraine, auch gegen Moldau und gegen die gesamte Europäische Union. Wir müssen deutlich mehr in unsere „Cyber-Fähigkeiten“ investieren. Die NATO wird und muss ihre Abschreckung künftig verstärkt auf China ausrichten. Hierauf bezogen bedeutet faire Lastenteilung, dass Europa verstärkt für eigene Abschreckung Sorge tragen, aber neben Osteuropa auch den Sahelbogen, den Westbalkan und den Nahen und Mittleren Osten in den Fokus nehmen muss.
Zurück zur Ausgangsfrage
Was bleibt von der Zeitenwende? Ist sie überall angekommen und umgesetzt? Ein klares NEIN! Denn weder hat die Bundesregierung – speziell aber auch der Bundeskanzler – derzeit das Ziel, dass die Ukraine gewinnen muss, noch haben wir begriffen, dass wir unsere
China-Politik ändern müssen und eine gemeinsame Strategie gegen CRINK brauchen, die eine Art von Kriegswirtschaft voraussetzt. Und ganz gewiss ist die Bundeswehr weder kaltstartfähig noch kriegstüchtig. Die Bundesregierung hat nicht verstanden und will auch die Zeitenwende nicht umsetzen. Doch die Zeit rennt uns davon! China, Russland, Iran und Nordkorea haben Zeit. Doch unsere mentalen und materiellen Ressourcen sind endlich. Wenn wir die Zeitenwende aber nicht begreifen, hat Europa keine Chance. Dann werden wir die transatlantische Partnerschaft überstrapazieren und gefährden in Deutschland unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa.

Namensartikel Roderich Kiesewetter MdB in ES&T 01/24